Es begab sich aber zu der Zeit, dass Weihnachten vor der Tür stand. Doch der Geist der Weihnacht war lange zuvor aus den Herzen der Menschen verschwunden. Seine drei Gesandten, Glaube, Liebe und Hoffnung, waren lange nicht mehr gesehen und Dunkelheit regierte die Welt. Schon vor Jahren, Jahrzehnten vielleicht, hatte sie die Macht an sich gerissen und den Menschen jegliche Erinnerung an Weihnachten genommen. Nun erfüllten Zorn, Missgunst und Habgier ihre Herzen.
Es war der Morgen des fünfundzwanzigsten Dezembers. Robin öffnete die Augen. Noch so ein Tag, an dem er lieber liegen geblieben wäre. Durch die Vorhänge konnte er erahnen, dass sich das Bild draußen nicht geändert hatte; dicke, graue Wolken hingen am Himmel und die Sonne hatte schon seit Wochen niemand im ganzen Land mehr erblickt. Im Dezember zeigte sie sich nie; keiner wusste so recht, warum. Es war wie verhext – und Robin wusste durchaus, was das hieß, denn er war der Magie mächtig. Ohne große Motivation stand er auf, wusch sich, nahm hastig ein dürftiges Frühstück ein und machte sich zu Fuß auf ins Zentrum der kleinen Stadt, an deren Rand er wohnte. Unterwegs kamen ihm einige Menschen entgegen, missmutig dreinblickend, nicht im entferntesten an einen Morgengruß denkend. Einige rempelten ihn an, da der Bürgersteig nicht sonderlich breit war.
Endlich erreichte Robin den Platz in der Mitte des Dorfes. Wie er dort stand, im grauen Zwielicht des Himmels, und den schmucklosen, tristen Platz anstarrte, umfing ihn eine seltsame Trauer. Schon mehrfach hatte er dieses Gefühl bei dem Anblick gehabt. Irgendetwas fehlte. Als wäre dort, auf diesem Dorfplatz, im Angesicht eines düsteren Dezembertages einst etwas gewesen, das die „dunkle Zeit“, wie dieser Teil des Jahres gemeinhin genannt wurde, weniger dunkel, weniger traurig gemacht hatte. In Robins Gedächtnis waberten undeutliche Bilder umher, von Lichtern, von Lachen. Doch wollte er diese Bilder greifen, sich daran erinnern, so entglitten sie ihm wieder und machten der allgegenwärtigen Dunkelheit Platz.
Fast vergessen, ein Traum von Glauben.
Hannah Macbeth seufzte, als sie die Gardinen zuzog. Die Straße vor ihrem Fenster lag kalt und grau da, der Himmel wolkenlos und klar. Leer.
„Ach, Benjamin, wenn du das doch nur sehen könntest.“
Seit dem Tod ihres Mannes war ihr Leben noch trostloser, ruheloser geworden. Die Nachbarn hängten schon seit Langem keine Lichterketten mehr auf. Kein Plätzchenduft erfüllte mehr die eisige Winterluft, wenn Weihnachten nahte. Die Menschen gingen arbeiten. Tag für Tag. Und Hannah Macbeth saß zu Hause in ihrem Wohnzimmer und dachte nach. Manchmal betete sie.
Denn Hannah Macbeth kannte andere Zeiten. Damals, als noch eine Wärme die Herzen erfüllte, war es allen eine Wonne gewesen, Weihnachten zu feiern. Jedes Haus und jedes Gesicht erstrahlte im schönsten Glanz der Vorfreude. Kinder, die Schneemänner bauten und Schlitten fuhren, lachten und Engel in die weiße Pracht malten. Erwachsene, die, ein Lächeln im Gesicht, vorübergingen und sich einen schönen Advent wünschten. Doch all das war lange her ...
Fast vergessen, ein Traum von Liebe.
„Kannst du nicht einfach mal dein Zimmer aufräumen?“, fuhr Timos Mutter ihn an. „Ich habe es so satt, hier nicht mal bis zum Fenster durchzukommen. Und schau dir bloß mal deinen Schreibtisch an! Wie willst du denn da Hausaufgaben machen?“
Timo war acht Jahre alt. Bald wurde er neun, im Januar. Aber erst bald. Früher hatte seine Mutter immer zu ihm gesagt, er sei ein Glückskind, weil an Silvester alle bösen Geister vertrieben wurden, und er genau einen Tag später in die reinste aller Welten geboren worden war. Natürlich wusste er, dass das nicht ganz stimmte. Sein Opa war ein Geist, und der verschwand ganz bestimmt nicht, nur weil da ein paar Muggel meinten, Zauberstäben, die nicht wirklich zaubern konnten, bunte Lichter an den Himmel zu schießen. Timos Vater war ein Zauberer. Deshalb wusste er, dass die Muggel keine waren. Aber Timos Vater war letztes Jahr ausgezogen, und seitdem tat seine Mutter nur noch genau drei Dinge: weinen, mit leerem Gesicht durch die Wohnung starren und Timo anschreien. Und meistens alles gleichzeitig.
„Timo, ich rede mit dir!“
„Nein, tust du nicht, du schreist mich an“, sagte er ruhig. Das machte sie meistens noch wütender, aber Timo hatte sich daran gewöhnt. Sollte sie doch schreien. Schließlich war doch nichts Besonderes an diesem Tag. Es war doch nur der 24. Dezember. Kein Grund, sein Zimmer aufzuräumen. Kein Grund, nicht zu schreien.
Fast vergessen, ein Traum von Hoffnung.
Nun aber bleiben Glaube, Liebe, Hoffnung, diese drei.
(1Kor 13,13)
Es war dunkel. Wie konnte es auch anders sein. Es war schon seit einer Ewigkeit so. Finsternis. Kälte. Ich wollte nur noch vergessen. Und doch … irgendetwas brachte mich dazu, die Augen zu öffnen. Langsam klärte sich mein Blick. Ich blickte auf die Welt hinab und sah … einen Hauch von Glauben. Eine Ahnung von Liebe. Eine wieder erwachte Hoffnung. Unwillkürlich musste ich lächeln. Behutsam stand ich auf. Mein Körper war entkräftet, geschwächt. Er war nicht mehr als der winzigste Schneekristall. Ein einziger, winziger Schneekristall, wie aus einem fast vergessenen Traum. Einem Traum von Weihnachten.
Ein Traum von Weihnachten.
Wenn in der weißen Winterwelt
Ein Schneekristall zur Erde fällt,
Wenn er im warmen Stubenlicht
Ganz leise schmilzt und nicht zerbricht,
Wenn das, was sonst keine Auge sieht,
Vor aller Augen still geschieht
Und alles ist ganz heimlich wahr,
Dann ist Weihnachten ganz nah.
Wenn Glauben nicht mehr Sehen heißt,
Und du nicht mehr so sicher weißt,
Ob du in dieser Welt denn noch
Den Glauben dir bewahr'n kannst, doch
Wenn Liebe dir das Herz erfüllt
Und Hoffnung jeden Kummer stillt,
Ja, dann weißt du mit Sicherheit:
Weihnachten ist nicht mehr weit.
Wenn du nicht seh'n musst, um zu glauben,
Wenn Träume deinen Geist erhellen,
Wenn reine Hoffnung'n dir erlauben,
Den Traum in deine Welt zu stellen,
Den Traum von einer bess'ren Welt,
Wo jede Hoffnung etwas zählt,
Wo jeder Traum ein Lächeln ist,
Wo niemand andere vergisst:
Dort liegt ein Schatz, den jedermann
Sich nicht im Traum erträumen kann.
Wenn Glauben zum Gefühl wird, dann,
Dann fängt Weihnacht wirklich an.